Rezension: Zeit der Unschuld

Es ist kompliziert: Eigentlich ist der junge Anwalt Newland Archer in einer hervorragenden Situation. Er ist angesehen, reich und hat ein angenehmes Leben vor sich. Die Verlobung mit der jungen May Welland steht kurz bevor, als deren aus Europa geflohene Cousine die New Yorker Gesellschaft aufwirbelt. Es wird nicht gern gesehen, dass hier eine junge Frau ihren Ehemann verlassen hat und Archer soll versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. Ellen Olenska zieht ihn jedoch mit ihrer ehrlichen Art sofort in ihren Bann. Sie treffen sich heimlich und kommen sich näher, allerdings stets im Bewusstsein ihrer ausweglosen Situation. Denn obwohl klar ist, wem sein Herz gehört, ist genauso klar, dass er sich nie öffentlich dazu bekennen kann. 
“The Age of Innocence“ von Edith Warthon erschien 1920 und war ein großer Erfolg, der ihr 1921 den Pulitzerpreis einbrachte. Nicht zuletzt die hochkarätig besetzte Verfilmung von Martin Scorsese hat dafür gesorgt, dass diese tragische Liebesgeschichte nicht in Vergessenheit geraten ist.
Nun hat der Manesse-Verlag eine Neuübersetzung des Klassikers von Andrea Ott herausgebracht.
"Zeit der Unschuld" ist kein Buch, das man mal eben so "runterlesen" kann. Die Autorin entwirft ein breites Panorama der New Yorker Upper Class und lässt dabei keine Einzelheit aus. Kleider und Frisuren werden ebenso bis ins kleinste Detail beschrieben wie familiäre Verwicklungen und die vielschichtigen Regeln, die in diesen Kreisen unausgesprochen galten. Für LeserInnen, die gerne in eine andere Zeit eintauchen, ist das Buch eine Fundgrube, die einen unverstellten Blick in die Vergangenheit ermöglicht. Andere werden sich vielleicht fragen, was uns dieser Klassiker heute noch zu sagen hat. Sicher wird heute niemand mehr von der Gästeliste gestrichen, wenn er beabsichtigt die Scheidung einzureichen und das ist auch gut so. Die Lektüre des Buches macht bewusst, wie viel Freiheit insbesondere die Frauen in den letzten hundert Jahren dazu gewonnen haben, wie eng die Fesseln waren, die viele mutige Kämpferinnen der Emanzipation ablegen mussten. Vergleicht man die von Edith Warthon beschriebenen Frauen mit den Frauen, die Louisa May Alcott in "Little Women" ("Betty und ihre Schwestern") 1868 zeigt, fällt auf, dass es im Amerika der damaligen Zeit durchaus ein freieres Denken gab. Das Korsett der Reichen war um einiges stärker geschnürt als das so mancher Frau auf dem Land. Dies im Hinterkopf habend ging es mir beim Lesen oft so, dass ich die Figuren am liebsten geschüttelt und ihnen zugerufen hätte: "Lasst euer Leben und eure Liebe doch nicht von Konventionen diktieren, befreit euch!" Es ist daher recht anstrengend, dabei zuzusehen, wie eben dies nicht geschieht und wie im Verlauf des Romans die Grenzen immer enger werden. Da dies jedoch durchgehend auf einem hohen sprachlichen Niveau geschieht, bleibt der Roman für alle, die sich gerne auf die Klassiker der Literatur einlassen, ein Lesevergnügen.
Das Rezensionsexemplar wurde mir über Blogg dein Buch zur Verfügung gestellt.

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